Widerstand und Amnesie #2: Über gescheiterte Utopien, lebendige Mythen und Kolonialität heute

Bisan Abu-Eisheh, Annalisa Cannito, Raja’a Khalid, Emma Wolukau- Wanambwa, kuratiert von Andrei Siclodi

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Einladungskarte, Grafik: Annette Sonnewend

Die Ausstellung wurde im Rahmen des Internationalen Fellowship-Programms für Kunst und Theorie im Künstlerhaus Büchsenhausen 2014/15 produziert. Daran beteiligt waren die StipendiatInnen des Fellowship-Programms, die KünstlerInnen Bisan Abu-Eisheh, Annalisa Cannito, Raja’a Khalid und Emma Wolukau-Wanambwa.

Widerstand und Amnesie #2 1 zeigte postkolonial-amnesische Momente im öffentlichen Gedächtnis Europas in dem Versuch auf, einen Überwindungsprozess zur Wiederherstellung der Erinnerung einzuleiten. Das (wieder‐)gewonnene Wissen sollte im Zuge dieses Vorgangs auf dessen Aktualität befragt werden. Die aus der Überwindung der Amnesie erlangten Gewissheiten vermochten eine emanzipatorische Kraft zu entfalten, die den Widerstand gegenüber wachsenden Asymmetrien zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden – die ihrerseits mit wachsenden inneren sozialen und ökonomischen Asymmetrien einhergehen – aktivieren kann. Was haben also die politische Inhaftierung eines palästinensischen Kommunisten durch das israelische Regime 1980, der Ruf Mussolinis nach Goldspenden seitens der italienischen Bevölkerung zur Finanzierung des Kriegs gegen Äthiopien 1935, die Errichtung des ersten karibischen Luxusressorts 1953 in der damaligen britischen Kolonie Jamaika, die Ansiedlung ehemaliger polnischer und ukrainischer Kriegsgefangener 1941 in Ostafrika am Victoriasee und die Eröffnung eines Mausoleums für einen faschistischen Kriegsverbrecher 2012 in einem kleinen italienischen Dorf nahe Rom miteinander zu tun? Sie alle sind Manifestationen eines Vorgangs, dessen Ursprünge bis ins ausgehende 15. Jahrhundert, bis zur „Entdeckung“ Amerikas, zurückreichen: der globalen Expansion der europäischen Moderne als subalternisierendes System. Die scheinbar disparaten Ereignisse, die in einem Zeitraum von achtzig Jahren stattfanden, sind allesamt von Kolonialität geprägt – kurz: durch
Kolonialität. Von deren Ausformungen, Auswirkungen und Ursprüngen erzählte diese Ausstellung.

„Es ist durchaus nützlich, daran zu erinnern, dass das Herein-brechen der Modernität die – zwar stufenweise, aber doch radikale – Transformation der intersubjektiven Strukturen, die ihr vorausgingen, sowie die Herausbildung eines einzigartigen Modells von Rationalität, das Schritt für Schritt die Gesamtheit der Weltbevölkerung erfasste, bedeutet hat. Eine der fundamentalen Grundlagen dieser umfassenden Veränderung war eine neuartige Auffassung der Zeit, in welcher Vergangenheit durch die Zukunft als prinzipieller Erwartungshorizont der Gesellschaft ersetzt wird […]“2, schreibt der venezolanische Anthropologe Pablo Quintero. Diese Zeitauffassung betraf im 20. Jahrhundert sowohl die kapitalistische als auch die kommunistische Vorstellung der Weltordnung. Während jedoch die neoliberal-adaptive Konzeption des Kapitalismus trotz aller vermeintlicher Rückschläge als eine global expandierende Ideologie realpolitisch überlebte und einen scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug feierte, verfing sich die kommunistische Utopie in ihren regionalen, real-sozialistischen Partikularitäten und scheiterte schließlich als politische Ordnung.

Dass es aber mehr gibt als nur eine dualistische Form der Betrachtung diesbezüglich, dass die kapitalistische Herrschaftsform unterschiedliche Formen von (mitunter religiös begründeter) Kolonialität erzeugen kann, die eine jahrhundertelang unterdrückte und verfolgte Ethnie selbst zur Verfolgerin macht, daran erinnerte am Eingang in die Ausstellung die Arbeit des aus Palästina stammenden Künstlers Bisan Abu-Eisheh. Ein Livemusik-Set stand hier aufgebaut, eine akustische Gitarre, eine Trommel, ein Tamburin, zwei Mikros, ein Partiturständer warten auf den Spieler, während aus einem alten Lautsprecher ein Lied ertönt. Die Melodie im Stil von Bob Dylan klang vertraut, gesungen wurde über das Inhaftiert-Sein, über Sehnsucht und Liebe. Doch später im Lied wurde klar, dass es nicht nur darum ging, sondern auch um ein freies Palästina, um den langen Weg dorthin, um Befreiungs- und um Klassenkampf. Tatsächlich beschäftigt sich Bisan Abu-Eisheh in einer längerfristig angelegten künstlerischen Investigation mit Identitätsfragen anhand des Privatarchivs seines Vaters, der 1980 als Mitglied der Kommunistischen Partei Palästinas denunziert worden und drei Jahre in einem israelischen politischen Gefängnis inhaftiert gewesen war. Aus dieser Zeit stammen unter anderem Briefe an seine Frau und künftige Mutter des Künstlers, aber auch Fotos von FreundInnen und Bekannten, die der Vater im Gefängnis erhalten hatte. Für die Installation im Kunstpavillon ließ Bisan Abu-Eisheh Briefe des Vaters ins Deutsche übersetzen. Der Musiker Kamil Szlachta wurde beauftragt, aus diesem Text Lyrics zu verfassen und daraus ein Lied zu komponieren und zu performen. Dabei ging es nicht zuletzt darum, den Mythos der kommunistischen Verheißung, seine beständige Lebendigkeit trotz offensichtlichen Scheiterns, aber auch die pathetische Adressierung, die für die arabische Sprache charakteristisch ist, zum Ausdruck zu bringen. Die körperliche Abwesenheit der singenden Stimme erzeugte eine nostalgische Wirkung, eine melancholische Sehnsucht nach der Utopie eines besseren Lebens, die nun in eine weite Ferne gerückt zu sein schien.

Die „wissenschaftliche“ Ausbeutung der Natur, insbesondere der Nutzpflanzen aus einer anderen „weiten Ferne“, den ehemaligen deutschen Kolonien, war eines der zentralen Themen in der Installation Idyllic Place or State von Raja’a Khalid. Raja’a Khalid fokussierte die Aufmerksamkeit auf die Sammlung tropischer Nutzpflanzen im heutigen Berliner Botanischen Garten. Diese Sammlung hat ihren Ursprung in der 1891 gegründeten „Botanischen Zentralstelle für die Deutschen Kolonien“, deren Ziel es war, die Untersuchung und Zirkulation von kommerziell verwertbaren Pflanzen aus und in den deutschen Kolonien zu organisieren. Viele dieser Pflanzen wurden im Zuge gewalttätiger Ereignisse „entdeckt“ und wirtschaftlich verwertet. Aus diesem Grund betrachtet Raja’a Khalid das „Gewächshaus C – Nutzpflanzen“ im Botanischen Garten Berlin als ein „koloniales Gesamtkunstwerk botanischer Materialien und deren Herkunft“. Die Künstlerin entnahm aus der duftreichen Luft dieses Gewächshauses eine Probe und verschickte sie an ein Labor zur Untersuchung der Aromenzusammensetzung. Auf Grundlage des Laborberichts stellte ein professioneller Parfümentwickler einen Duft her, der möglichst nah an die Originalluft kommt (zumindest so, wie diese in der Erinnerung der Künstlerin noch abrufbar ist). Dieses Parfüm war mithilfe eines industriellen Duftdiffusors in der Ausstellung erfahrbar. In nächster Nähe dieses erdigen Duftes war die gerahmte Fotografie einer stereotypen „blonden weiblichen Schönheit“ an einem Sandstrand zu sehen. Den Hinweis, wo dieses Foto aufgenommen worden sein könnte, lieferten die im Raum befindlichen Hibiskus-Pflanzen: Ursprünglich aus Jamaika stammend, sind diese heute weltweit verbreitet, sowohl als Tee als auch als dekorative Zimmerpflanze. Die abgebildete Frau – Liz Benn, eines der berühmtesten Models der 1950er-Jahre – posierte hier für das „Vogue“-Magazin „irgendwo“ an einem Strand in der Karibik. An diesem Ort, so Raja’a Khalid, übergibt die koloniale Pflanzenkunde sozusagen die Staffel hinsichtlich der Herstellung exotischer Sehnsuchtsbilder an die postbellische Fashion- und Tourismusindustrie. Liz Benn war mit John Pringle verheiratet, der am Montego Bay auf Jamaika 1953 das weltweit erste Luxus-Resort eröffnete. Viele solcher Ressorts befinden sich heute auf ehemaligen europäischen Kolonialgebieten in der Karibik, an der afrikanischen Ostküste, in Ost-asien und im Südpazifik.

Die Verheißung eines besseren, ja paradiesischen Lebens spielte auch in der Arbeit Promised Lands von Emma Wolukau-Wanambwa eine zentrale Rolle. In einer eigens hierfür gebauten, grell-orange gestrichenen Koje war ein Ein-Kanal-Video zu sehen, dessen Bild von einer erzählen-den Stimme begleitet wurde. Der Videoessay zeigte die ungeschnittene, statische Aufnahme einer ländlichen Landschaft während eines Sonnenuntergangs. Aufgenommen an einem unbestimmten Ort im Osten Ugandas mit der Auto-Fokus-Einstellung auf „on“, begann die Kamera, je dunkler es wurde, immer hektischer das Bild scharfzustellen. Die während der Dämmerung sprechende Stimme der Künstlerin reflektierte über die Definitionsmacht hinsichtlich Grenzziehungen. „Words kill“, stellte sie fest, um anschließend lexikonkon-forme Erläuterungen der Begriffe „Fiktion“, „Kunst“ und „künstlich“ schriftlich im Bild zu erläutern. Es ging hier um Beobachtung an sich, um die Wichtigkeit von Schärfe, der Schärfung der Wahrnehmung. Während die Nacht sich immer mehr ausbreitete, entführte Emma Wolukau-Wanambwa die ZuschauerInnen auf eine meditative Reise, für die sie unterschiedliche Quellen verarbeitete: Auszüge aus dem Roman „Freiland. Ein soziales Zukunftsbild“ (1890) von Theodor Hertzka, Begegnungen der Künstlerin mit Personen, die in einer abgeschotteten europäischen Flüchtlingssiedlung zwischen 1941 und 1953 am Victoriasee gearbeitet hatten, sowie Eindrücke am Ende einer nächtlichen Zugfahrt vom Brenner nach Innsbruck. Promised Lands machte deutlich, dass Utopien im europäisch-westlichen Sinn immer ein koloniales Projekt waren und dass deren Umsetzung auf einem notwendigerweise als leer vorgestellten aber de facto nie leer gewesenen Gebiet unvermeidlich mit einer rücksichtslosen Verdrängung und Subalternisierung der bis dahin dort lebenden Menschen einherging. Sie erinnerte uns aber auch daran, dass dieser Vorgang nicht bloß etwas historisch Vergangenes darstellt, sondern direkte Auswirkungen auf unsere Gegenwart zeigt.

Ebenfalls in eine für die Gegenwart höchst relevante Verbindung zu einem historisch unaufgearbeiteten Trauma, in die „Eingeweide des Faschismus und Kolonialismus“, führte Annalisa Cannito im hinteren, abgedunkelten und schwarz gestrichenen Ausstellungsraum ein. Hier zeigte sie vier Arbeiten, in denen objekthafte Gestaltung und Fernsehnachrichtenmontage mit historischem Originalmaterial konfrontiert sowie fotografische und kinematografische Bilder in einer mehrfachen Projektion überlagert wurden. Im visuellen Mittelpunkt stand Life Saver, ein vergoldeter Schwimmrettungsring aus Beton, der zentral an der Stirnwand hing. Die Skulptur wies zwei Referenzen auf, eine historische und eine in der Gegenwart, wobei die historische von einer daneben angebrachten Originalpostkarte aus dem Jahr 1935 verdeutlicht wurde: „L’oro alla patria“, Gold für das Vaterland, war eine Losung des faschistischen Regimes, als Mussolini 1935 die „Giornata della fede“ (im Italienischen doppeldeutig: Tag der Hoffnung/ Tag des Eherings) ausrief, eine Zeremonie der Gabe von Gold und Wertgegenständen an das Regime, um den Krieg gegen Äthiopien zu finanzieren. Im Hinblick auf die Gegenwart wies der steinschwere Rettungsring auf die Problematik der aktuellen europäischen Migrationspolitik hin. Contesting Europe Corporate Hypocrisy #2 ist eine Videocollage aus TV-Nachrichten, die die Künstlerin im Internet gesammelt hatte. Sie verdeutlichte, wie (oft unbeabsichtigte) rassistische Handlungsmuster und Oppressionsverhalten in politischen Ansprachen und Handlungen mithilfe der Massenmedien ihre Verbreitung erfahren, und animierte zu einem widerständigen Verhalten demgegenüber. Das dazugehörige Originaldokument, ein Notizheft aus der Zeit des Faschismus, verbildlichte eine Situation, die aus der heutigen Zeit hätte stammen können: Auf der Rückseite des Umschlags ist „Mare nostrum“ zu lesen (so auch der Name einer Operation der italienischen Küstenwache 2013/14), während auf der Vorderseite eine dramatische Seeschlacht dargestellt ist. Intervention in Spaces of Amnesia #2 hinterfragte schließlich Formen verehrender Erinnerung an faschistische Kolonialverbrecher im heutigen Italien. Im August 2012 wurde im kleinen Dorf Affile bei Rom ein Mausoleum zu Ehren seines Bürgers Rodolfo Graziani gebaut, eines faschistischen Kriegsverbrechers, der für Gräueltaten gegenüber dem antikolonialen Widerstand in Libyen und Äthiopien verantwortlich zeichnete. Annalisa Cannito überlagerte das fotografische Bild des Mausoleums mit der Projektion eines Films, der beinahe dreißig Jahre lang in Italien zensiert worden war: Der Film „Der Löwe der Wüste“ des syrisch-amerikanischen Regisseurs Mustafa al-’Aqqad visualisiert auf Grundlage einer akkuraten historischen Recherche sowohl Gewalt und Verbrechen der italienischen Armee in Libyen zwischen 1929 und 1931 unter der Führung Grazianis als auch die dortige antikoloniale Resistance, die vom Widerstandskämpfer Omar Mukhtar jahrzehntelang angeführt wurde. Die Vorführung des Films wurde 1982 in Italien verboten: Der damalige Premierminister Giulio Andreotti begründete dies mit dem Argument, der Film beleidige die Ehre der italienischen Armee.
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1 Die Ausstellung im Kunstpavillon war die Fortsetzung der bereits im Herbst/Winter 2014 im Künstlerhaus Büchsenhausen gezeigten Ausstellung Widerstand und Amnesie #1 – Zur Formierung gesellschaftlicher Erinnerung.
2 Pablo Quintero: Entwicklung und Kolonialität, in: Pablo Quintero und Sebastian Garbe (Hg.): Kolonialität der Macht. De/Koloniale Konflikte: Zwischen Theorie und Praxis, Münster 2013, S. 93-114, hier S. 95.

 

Eröffnung: 17. Juni 2015, 19.00
Begrüßung: Christoph Hinterhuber, Vorstandsmitglied Tiroler Künstlerschaft
Einführung: Andrei Siclodi, Kurator