Analgeburt

Catrin Bolt

So wie ein Gedanke oder Text führt auch ein Weg zu einem Ziel, wegen dem man überhaupt denkt, liest oder sich hinbewegt. Das Ankommen rechtfertigt dann den Aufwand des Hinkommens. Aber alle drei, Gedanken Texte oder Wege, können auch ziellos sein und nur für sich stehen. Mit dem Selbstzweck der Dinge verschieben sich die Wertigkeiten und es stellen sich weniger Fragen, nicht mehr nach dem Sinn von Essen, Schlafen und Arbeiten oder gar nach dem des Lebens.

Das Panorama bezieht sich immer auf die, die es betrachten. Sie stehen im Mittelpunkt und bestimmen Bewegung und Blick. Das Rundherum definiert das Zentrum, das umfassende Gegenüber erzeugt die eigene Identität. Dabei hat man absolute Kontrolle und Überblick, das Ausschweifen und Drehen ist das Ziel um sich selbst zu verorten.

Wenn man nach Tirol reist um dort zu übernachten, denkt man sich einen Ausblick aus dem Fenster, ein weites Panorama. In den Dingen steckt aber auch immer ihr Gegenüber, und so entspringt der Berghang vorm Fenster demselben Ort der einem den Ausblick ermöglicht.

So finden sich auch Aspekte des Panoramas und des Rundumblicks in seinem scheinbaren Gegenteil wieder. Das Allumfassende beim Blick vom Berg hinunter beinhaltet auch die begrenzte Sicht im Tal oder das völlige Verlorengehen im Inneren des Berges. Orientierungs- und Kontrollverlust, einen Weg nehmen müssen, anstatt selbstbestimmt zu gehen, verstellte Blicke statt Übersicht – das sind Aspekte des Labyrinths. Im Gegensatz zur luftigen Aussicht über das Land sind die frühesten Labyrinthdarstellungen immer mit dem Weg in den Berg oder die Erde verbunden. Wie beim Rundumblick dreht sich jedoch alles um einen selbst, oder eher, man sich selbst um sich selbst. Am Ende, oder in der Mitte, ist man doch nicht angekommen, sondern man steht wieder am Anfang, bzw. man ist nur zwei Meter weiter und muss in einer völligen Kehrtwendung denselben Weg zurück.

Der Tanz als Ausdruck von sich selbst nach Außen, eine Analogie und Umkehrung des 360°-Panoramas. Diesen muss man vollführen um die Analgeburt (schlängelnd, als Panoramaskulptur) zu sehen. In der Desorientierung findet doch eine Standortbestimmung statt.

Mit dem Tanz und dem 360°-Panorama kann man an einen weiteren Aspekt unserer Selbstdefinition denken: Panoramabilder gelten als Vorgänger des bewegten Bildes, von Film und Fiktion. Wir denken vielleicht nicht oft daran, aber es ist doch beruhigend zu wissen, dass wir jeden Sonntag bequem vom Wohnzimmer aus mit der sich um sich selbst drehenden Kamera durch unser Land tanzen können. Das Wetterpanorama als nationales Überwachungsprogramm lässt uns die Schönheiten des Landes abstecken. Geleitet durch die vorgegebene Kamerabewegung können wir einen Kontrollblick werfen, und wieder sind wir selbst im Zentrum, Dreh- und Angelpunkt.

Erst mit Bewegung und Veränderung entsteht Wahrnehmung. Im Zwischenraum, also in der Differenz zwischen den einzelnen Momentaufnahmen, werden die Dinge fassbar.

Das Labyrinth ist bereits in seiner Definition und auch in seiner Materialität nicht festgelegt und beinhaltet in sich selbst Differenzen, die seine Wahrnehmung ausmachen: ausgehend von einem Tanz ist es in der Aufsicht dessen Bewegungsschema und eine Orientierungsfigur, um die Choreographie zu erleichtern. Zwar wurde der Tanzablauf irgendwann weder von den Zuschauenden noch Tanzenden verstanden, als Symbol und grafische Figur trägt es aber dessen Bedeutung weiter. Gleichzeitig mit der Bewegung benennt der Begriff auch jene (funktionale) Architektur, die diese leitet. Die Analgeburt ist ebenfalls unterschiedlich materiell: sie hat Wände, aber verliert ihr Innen oder Außen, sie ist zugleich die Bewegung und eine Skulptur, deren Form man nur im Gehen sehen kann, und sie ist auch Ausstellungsarchitektur.

In dieser Funktion ist dann irgendwo, zwischendrin, ein Video gebeamt, in dem offensichtlich Landschaften abgeflogen werden. Die wiederum bewegte Kamera sondiert verschiedene, schwer zu verortende Gegenden. Diese sind  jedoch eigentlich in der Natur gefundener Plastikmüll, der im Atelier von nahe mit Handkamera aufgenommen wurde. Aspekte des Panoramas und Labyrinths finden sich auch da wieder – Landschaft, Überblick und Kontrolle als identitätsstiftende Elemente, die in Detail und Orientierungslosigkeit verloren gehen, scheinbares Erfassen durch das Taxieren von Gegenden und Gebieten. Mit der Zerstörung und Verschmutzung unserer Umgebung und Umwelt stellt das Video noch deutlicher die Frage nach Landschaft und Standortbestimmung als Teil von Identität und Selbstdefinition.

Damit wird ein weiterer Aspekt des Labyrinths angesprochen: mit der Kehrtwendung in der Mitte ist es ursprünglich ein Symbol für Initiation und Tod, deren Voraussetzung Selbstdefinition ist. Paradoxerweise ist das Vergehen der letztgültige Beweis, dass es etwas wirklich gegeben hat.

Catrin Bolt

Catrin Bolt, *1979; 1997 – 2003 Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien; Einzelausstellungen und permanente Präsentationen im öffentlichen Raum (Auswahl): 2016 Ehrenmäler für Marie Jahoda und Elise Richter, Arkadenhof der Universität Wien; Pameran satu hari, Sewon Art Space, Yogyakarta (ID); 2015 Kapital und Interessen, meine Schulden groß und klein werden einst verrechnet sein, Preisausstellung Otto Mauer Preis, Jesuitenfoyer, Wien; Herzliche Fernschachgrüsse, case #1, kuratiert von Markus Waitschacher, mobile Ausstellung; haaaauch-quer, Klagenfurt; 2014 Alltagsskulpturen Mahnmal, Kunst im öffentlichen Raum, Wien; galerie nectar, Tbilisi (GE); 2013 Lauftext, Kunst im öffentlichen Raum Steiermark, Graz; 2010 Orientierungstafeln, Viehofen, St. Pölten; Thema verfehlt, Kunstraum Lakeside, Lakeside Park, Klagenfurt; 2009 Parcours, permanente Installation, Schloßpark Grafenegg, Grafenwörth; 2008 Bilder einer Ausstellung, Kabinett im Salzburger Kunstverein, Salzburg;  2007 Mechurchletukhutsesi, Galerie Winter, Wien; 2006 die verlorene gute Laune, Österreichisches Kulturforum, Warschau (PL); mtkvari njet, National Art Center, Tbilissi (GE); 2005 there is still something you should know, Galerie Winter, Wien; 2004 eingezogene Decke, Galerie der Stadt Gmünd; aus´gstellt is, galerie.kärnten, Klagenfurt; no show is an island, Rossek/Stahl, Frankfurt (DE); 2003 Vor deiner gebrochenen Nase, Galerie 5020, Salzburg; Invitationplonk, kuratiert von B+B, Austrian Cultural Forum, London (UK); Hotel Imperial, Hotel Rhizom, Graz

 

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